Ein nächtliches Verkaufsverbot für Alkohol und ein Tabak-Werbeverbot waren im Parlament chancenlos. Nun machen Fachleute ihrem Ärger Luft.

Eine Viertelmillion Menschen in der Schweiz hat die Kontrolle über ihren Alkoholkonsum verloren – das entspricht etwa der Bevölkerung des Kantons Thurgau. Rund jeder zwanzigste Jugendliche ist Spielsucht-gefährdet. Das sind zwei Erkenntnisse aus dem Bericht Suchtpanorama 2017, den die Stiftung «Sucht Schweiz» am Donnerstagmorgen veröffentlicht hat.

Die Stiftung beschränkt sich jedoch nicht darauf, über das Konsumverhalten der Schweizer zu informieren. Sie nutzt die Gelegenheit auch für einen Frontalangriff auf den Politbetrieb: Dieser scheue sich davor, die Suchtproblematik wirksam anzupacken, kritisieren die Verantwortlichen.

«Interessen der Industrie höher gewichtet»

Sprecherin Monique Portner-Helfer sagt, mit den Sitzgewinnen von SVP und FDP an den Wahlen 2015 habe sich das Problem akzentuiert: «Im neuen Parlament werden ökonomische Belange noch stärker vertreten: Meist werden die Interessen der Industrie höher gewichtet als die Prävention.»

Auf die Eigenverantwortung der Bürger zu verweisen, greift für Portner zu kurz: «Natürlich sollen die Bürger als mündige Konsumierende betrachtet werden – die Solidarität mit Suchtkranken darf dabei aber nicht auf der Strecke bleiben.»

Spielsucht droht zuzunehmen

Genau das passiert laut Portner aber immer öfter: Werde zu wenig gegen die Folgen problematischen Alkoholkonsums unternommen, litten namentlich auch rund 100’000 Kinder weiter, die mit einem alkoholkranken Elternteil aufwachsen, warnt sie. Beim Glücksspiel drohe sich das Problem zudem noch zu verschärfen, wenn Online-Casinos erlaubt werden.

Der Bericht verweist auf zahlreiche Massnahmen, die seit 2015 im Parlament oder in der Kommission gescheitert sind. Darunter:

  • • Ein Nachtverkaufsverbot für Alkohol zwischen 22 Uhr abends und 6 Uhr morgens
  • • Ein Werbeverbot für Tabak in Online- und Printmedien sowie in Kinos und an Festivals
  • • Alterskontrollen an Spielautomaten sowie die Erhebung einer Präventions-Abgabe in Casinos

«Schlimmste Katastrophen abgewendet»

Gregor Rutz (SVP), Präsident der IG Freiheit und der Vereinigung des schweizerischen Tabakwarenhandels, sagt: «Ich staune schon ein wenig, wie hier die Realität verdreht wird.» Der Staat mache den Bürgern ständig neue Vorschriften, pro Woche kämen rund 120 neue Gesetzesseiten hinzu. «Uns nun einen Strick daraus drehen zu wollen, dass wir im Parlament die schlimmsten Katastrophen wie das Nachtverkaufsverbot für Alkohol abgewendet haben, ist absurd.»

Inzwischen gebe es in der Schweiz eine regelrechte Präventionsindustrie, so Rutz. «Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier Leute am Werk sind, die vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sehen: Am liebsten würde man jedem Bürger einen Beamten an die Hand geben, damit er keine Dummheiten macht.»

Die Zahl der Raucher nehme nicht mehr zu, der Alkoholkonsum in der Schweiz sinke gar seit Jahren, so Rutz. «Wir müssen uns ja bald Sorgen um unsere Weinbauern machen», scherzt er. Die Bürger unter diesen Vorzeichen noch stärker zu bevormunden, sei «frech und unzulässig». «Sinnvoll wäre es, die Prävention auf ihren Kern zu reduzieren und Betroffenen etwa im medizinischen Bereich Angebote bereitzustellen.»

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